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Das Liebeswerben des Zaunkönigs

Nichts von dem, was sich ergibt, ist auch nur im Entferntesten der Situation angemessen.

Unsichtbares Komitee

Zuerst war da nur dieses Rauschen, das man für das Rau­schen von Blättern einer Eiche oder Buche hätte halten kön­nen, wäre es nicht erst Anfang März gewesen, eine Zeit, in der Blätter allenfalls Knospen sind und Wind des­halb kein Ge­räusch mit ihnen erzeugen kann, das einem Rauschen auch nur annähernd ähnlich wäre. Auch war es draußen windstill, und da es langsam dämmerte, konnte man ein Flugzeug er­kennen, eine alte Propellermaschine, dem Kenner vertraut unter dem Namen Polikarpow I-16, hier in der zweisitzigen Trainerversion, wie sie in Russland im Zwei­ten Weltkrieg zur Ausbildung der Piloten zum Einsatz kam, während die einsitzige Version ausschließlich für den Kampfeinsatz vor­gesehen war. Dieses Flugzeug rollte langsam zur Startbahn, wes­halb das gleichmäßige Rauschen während der Aufwärm­pha­se des neunzylindrigen Sternmo­tors jetzt in ein unregel­mä­ßiges, an- und abschwel­lendes Brausen überging, je nach­dem, ob das Flugzeug eben einer längeren Gerade auf einer Taxiroute folgte oder wegen einer Kurve die Geschwindig­keit reduzierte.

Das Bemerkenswerte war, dass sie von einem Mann gesteu­ert wurde, der solch eine Maschine schon im Großen Vater­ländischen Krieg hätte fliegen kön­nen, was an sich schon eine bemerkenswerte Leistung ist, wenn man bedenkt, dass das Ende dieses Krieges jetzt fast genau 45 Jahre zurücklag und wir uns in dem Jahr befinden, das unter normalen Umständen als das Jahr des russischen Hochs in die Annalen einge­gangen wäre, wenn nicht dum­merweise kurz zuvor die UdSSR zusammengebrochen und Russland in letzter Konsequenz allein und ohne Satrapen übrig geblieben wäre.

Noch bemerkenswerter aber als unser Pilot ist die Blondine an seiner Seite, die, offensichtlich in leichte Abendgardero­be gekleidet, ihre nackten Schultern mit dem Fell eines Po­larfuchses vor der zweifelsohne feuchten Kühle des begin­nenden Vorfrühlingstages schützte.

Sollte der Pilot tatsächlich schon im erwähnten Krieg sein Vaterland vor den Aggressoren verteidigt haben, was sehr wahrscheinlich ist, denn wer könnte heute noch eine Poli­karpow I-16 fliegen, die seinerzeit als kapriziös galt, was damals nicht viele für den Dienst an diesem Fluggerät quali­fizierte, dann wäre er heute vermutlich ein hochdekorierter General kurz vor oder nach seiner Pensionierung, der eben mal mit seinem alten Arbeitsgerät von Leningrad oder Moskau auf diese nur noch halb von den Russen ge­nutzte Militärbasis vor den Toren Berlins geflogen ist.

Fragt sich nur, warum?

Diese Frage lässt sich an dieser Stelle nicht abschließend klären.

Der Einfachheit halber ist davon auszugehen, dass der er­graute Pilot einerseits tatsächlich Russe und andererseits schon im Großen Vaterländischen Krieg im Einsatz war, was seine Leistung, angesichts der Tatsache, dass in dem leeren Hangar, an dem das Flugzeug gerade vorbeirollt, die ganze Nacht ein rauschendes Fest gefeiert wurde, bei dem der rus­sische Pilot, wie Russen das eben so tun, reichlich dem Champagner, dem Wodka und ausreichenden Mengen Be­luga-Kaviars zusprach und sicher keine Minute ein Auge zutat, bevor er wieder in diese Maschine stieg, um wer weiß wohin zu fliegen, angesichts all dessen ist dies eine wahrlich heroische Leistung.

Vergessen wir aber über all dem Heroismus nicht die Blon­dine an der Seite des Piloten, die mehr als ausreichend betörend ist, um in dieser Geschich­te noch eine größere Rolle zu spielen.

Welche ?

Wer weiß ?!

Wie es der Zufall so will, träumt Sergej, der seinen Vorna­men nicht einem russischen Vater, sondern der uneinge­schränkten Bewunderung seiner Mutter für den Filmpionier Sergej Eisenstein verdankt, der aber anders als sein Na­mens­pate definitiv kein Russe ist, genau von dieser mehr als ausreichend betörenden Blondine und hält das anfäng­lich gleichmäßige Rauschen tatsächlich für das Rauschen von Blättern, was auf eine mehr als ausreichende Intoxika­tion mit berauschenden Stoffen schließen lässt, denn normaler­weise ist Sergej, so sagt es zumindest seine Mutter, fest in der sogenannten Realität verankert, wozu auch eine genaue Kenntnis der Jahreszeiten zählt. Und gestern Abend war ihm noch vollkommen bewusst, dass es eine kalte Nacht werden würde, weshalb er auch seine Daunenjacke eingepackt hatte, auf der er nun im Hangar liegt und von jener betörenden Blonden träumt, dass sie miteinander unanständige Dinge täten, die ihm im Zustand vollkommener Nüchternheit wahr­scheinlich nie in den Sinn gekommen wären. Wir ver­raten hier auch gleich ein Geheimnis. Seit jeher war ihm sein Vorname peinlich, sodass er ihn mit entsprechendem Abstand zu seiner Mutter einfach in das französische Serge verwandelte, was auch viel besser zu seinem Nachnamen Perceval passte, von dem er aber auch annahm, dass die durchweg fran­kophile Weiblichkeit in der Schule und dann an der Un­iversität den Träger dieses Namens mit eben jener Dosis an Frivolität ausstattete, die man unseren männlichen Nachbarn jenseits des Rheins von Natur aus zusprach.

Gerade jetzt aber schleichen sich in den Schlaf und selbst­verständlich auch in den Traum unwidersprochen Zweifel, ob es denn ein Blätterrauschen sein kann, das all­mählich seine Großhirnrinde erreicht, und wenn ja, könnte es wirk­lich das Rauschen von Eichen und Buchen sein, wo es doch der um diverse Basstöne bereinigte Klang der lanzettförmi­gen Blätter von Weiden sein müsste, die es im Ge­gensatz zu Eichen und Buchen reichlich hier gibt.

Auch wenn die Logik jetzt verlangt, dass, wenn es denn An­fang März ist, weder an Eichen und Buchen noch an Weiden Blätter zu finden sind: Wer wollte diese intellektuelle Leis­tung jetzt von unserem unsanft aus seinen Träumen geweck­ten Schläfer verlangen?

Angesichts der Menge an berauschenden Substanzen im kardiovaskulären System unseres Träumers brauchen die Zweifel, ob angebracht oder nicht, geraume Zeit, um ihre Be­rech­tigung nachzuweisen und den Schläfer aus einer Quasi-Katatonie in jenen Zustand zu versetzen, den man nur halbwegs wach nennen kann. Sein erster Blick fällt, da Ser­gej zu den sogenannten Rückenschläfern ge­hört, zwangsläu­fig an die Decke des Hangars, den die Polikarpow I-16 gera­de eben hinter sich gelassen hat, und voller Schreck miss­deutet er die scharfen Strahlen, die halbkreis­förmig sein Lager vom Rest des Hangars abtrennen, als Laser­gitter, dass ihn von der Flucht oder ähnlich sinnlosen Aktivitäten abhal­ten soll. Ganz Kind seiner Zeit vermutet er für etwas weni­ger als eine Sekunde, dass er Gefangener der Klingonen ist, die ihn auf einem ihrer Raumschiffe gefangen halten, um ihm zu gegebener Zeit mit der Menschheit noch vollkommen unbekannten Werkzeugen unaussprechliche Schmerzen zuzufügen. Der unvermeidliche Adrenalinstoß, den solch ein Gedanke bei jedem halbwegs normalen Individuum auslösen muss, hat den unabweislichen Vorteil, die Verankerung in der Rea­lität, auf die Sergejs Mutter so stolz ist bei ihrem Sohn, wie­der in ihr Recht zu setzen, und das Lasergitter als das zu er­kennen, was es ist: Das Licht eines unschuldigen Morgens, das durch die abgeplatzten Nieten an der Decke des Hangars auf den Boden fällt in zugegeben verdächtiger For­mation.

Angesichts der bis an die Komagrenze reichenden Intoxika­tion mit vorwiegend alkoholischen Suchtmitteln erwacht Sergejs Verstand jetzt mit erstaunlicher Geschwindigkeit, und in der Folge erkennt er das Rauschen, das jetzt wieder stärker wird, als das Geräusch eines Flugzeugmotors, ge­nauer eines neunzylindrigen Sternmotors einer Polikarpow I-16, die General Pjotr Andruchin schon 1945 bei der Be­freiung seiner Heimat von den deutschen Aggressoren ge­flogen hat, und mit der er auch die armseligen Reste der deutschen Wehrmacht verfolgte, die von Königsberg nach Westen flo­hen in die Reste jenes Reichs, das einmal 1000 Jahre wäh­ren sollte, aber dann nach nur 12 Jahren unterging. Nach 69 Abschüs­sen feindlicher Maschinen und anderthalb Bruch­landungen, bei denen er schwere Stauchungen seiner Wir­belsäule erlitt, verfolgte er an einem Märztag im Jahr 1945, also vor ziem­lich genau 45 Jahren, einen Konvoi aus mehre­ren Last­wagen, der unbedingt, so lautete die Order, ge­stoppt, aber keinesfalls zerstört werden durfte. Schon bei der Verlesung des Befehls hatte Andruchin die Stirn gerun­zelt, weil ihm bis zum Start und auch während des gesamten An­griffs nicht klar war, wie er mit den Bordwaffen diesen Konvoi stoppen könnte, ohne ihn in seine Einzelteile zu zer­legen. Man kann davon aus­gehen, dass der Ehrgeiz unseres Piloten zu diesem Zeitpunkt kurz vor Ende des Kriegs, wo der Feind schon so gut wie besiegt war, zu keinen neuen Höhepunkten mehr eil­te, zumal ihn in Moskau nach dem Endsieg nicht nur Galina Iwanowna erwartete, sondern auch eine glänzende Karriere im russischen Militär.

Was diesen Konvoi so überaus interessant macht, ist die La­dung, die die sechs Wagen – hastig und unzureichend ver­packt – auf ihren Ladeflächen transportierten. So glaubt es zumin­dest Stanislaus Uhde, der Sergej in einem langen und ermü­denden Gespräch auf seine Aufgabe vorbereitet hatte, immer wieder unterbrochen durch lange Zigarrenpausen und die wiederholt gestellte Frage, ob Sergej ihm, Stanislaus Uhde, folgen könne, worauf Sergej immer pflichtschuldigst nickte und sich mit fortwährender Dauer dieser Unterrich­tung fragte, ob Uhde denn wirklich gewillt war, die telefo­nisch zugesagte Summe als Vorschuss rauszurücken, derent­wegen er eigentlich in diesem düsteren Zimmer vor dem massiven Schreibtisch aus deutscher Eiche saß, der einmal Josef Goebbels persönlich gehört haben soll. Wenn Uhde sagte, er glaube, dass der Konvoi unterwegs nach Böhmen war, so stimmt das nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem ein junger Gefreiter, der zur Bewachung der Kisten auf der La­defläche des letzten Lastwagens saß, wegen des Angriffs ei­ner Polikarpow I-16 bei dem Versuch, in Deckung zu gehen, einfach von der Ladefläche fiel und solange steif vor Schreck im eiskalten Matschliegen blieb, bis der Pilot der Polikarpow wahrscheinlich wegen Spritmangels aufgab und nach Osten abdrehte, während der Konvoi längst in einem Wald verschwunden war, der so dicht war, dass er als De­ckung vor der Polikarpov dienen konnte, von dem Uhde aber auch wusste, dass der schmale Feldweg, auf dem der Konvoi un­terwegs war, mitten unter mächtigen Kiefern auf eine große, gut ausgebaute Straße traf, die in den Westen führte und nach etwa anderthalbtägiger Fahrt bei Elblag auf eine Tra­verse in den Süden traf, die den Konvoi nach einer weiteren dreitägigen Fahrt schließlich bis nach Ostrau hätte bringen sollen. Wo er aber nie angekommen ist, das weiß Uhde sicher, denn er hat fast sein ganzes Leben damit ver­bracht, diesen Konvoi zu suchen. Was Uhde Sergej nicht verriet, war der Name des Gefreiten, der von der Ladefläche gefal­len war, was mehr als verständlich ist, denn der Gefrei­te hieß – Sta­nislaus Uhde, damals ein junger Mann von 22 Jahren, der diese wenig heldenhafte Episode seines Lebens nicht einmal seiner Frau Elvira erzählt hatte, die ihn vor drei Jah­ren trotz anscheinend bester Gesundheit verlassen hatte in­folge eines Hirnschlags. Wegen dieses plötzlichen Ab­schieds hegte Uhde noch immer ein wenig Groll auf seine Frau, der einzig dadurch gemindert wurde, dass sie ihm ihr stattliches Ver­mögen hinterlassen hatte, was ihm die sorgen­freie Verfol­gung des einzigen Ziels erlaubte, das er jemals im Leben hatte: Der Suche nach dem Bernstein­zimmer, das auf den Ladeflächen der LKWs so unsachgemäß verstaut war, dass eine der Kisten beim Durchfahren eines Schlag­lochs einen Sprung machte und einen jungen Gefreiten, der vor den Ma­schinen­gewehrsalven des russischen Flugzeugs Schutz such­te, am Schienbein traf, worauf dieser einfach von der Ladefläche fiel. So wenig heldenhaft das erscheinen mag, so war es vermutlich dieser Sturz, der Uhde das Leben rettete, denn von all den Kameraden, die den Transport be­gleiteten, ist keiner jemals wiederaufgetaucht, sodass Alle zehn Jahre nach Kriegsende für tot erklärt wurden und ihre Witwen eine kleine Rente erhielten, die wenigstens das Überleben sicherte, sofern sie nicht schon vorher verschie­den waren. Auch das Bernsteinzimmer blieb verschwunden, und selbst Heer­scharen von Schatzsuchern fanden niemals auch nur den kleinsten Krümel davon wieder. So bleibt als vermutlich letzter Lebender, der das Bernsteinzimmer gese­hen hat, nur Stanislaus Uhde, auch wenn er das, was in den Kisten war, nicht wirklich gesehen hat, aber jedem, der sie aus den Kellern des Königsberger Schlosses kurz vor Son­nenaufgang zu den Lastwagen schleppte, war klar, dass es sich nur um das Bernsteinzimmer handeln konnte, denn sonst war nichts von Wert mehr in dem alten Gemäuer, und schließlich hatte der Gefreite Uhde zusammen mit seinen Kamera­den das Bernsteinzimmer höchstpersönlich in diesen Kisten verstaut und in die verzweigten Keller des Königs­berger Schlosses gebracht, um sie vor den anrückenden Truppen des Feindes zu sichern, solange, bis eine Gegenof­fensive das nur vor­übergehend verlorene Terrain zurückero­bert hät­te, so dass die wertvollen Mosaiken in den Katharinen Palast zurückge­bracht werden konnten, auf dem dann aber in tro­ckenen Winden, die aus der russischen Tundra in die Ostsee wehten, die Flaggen des Deutschen Reichs klirr­ten. Und zwar min­destens tausend Jahre lang.

Von all dem erfuhr Sergej bei dem ersten und bis jetzt einzi­gen Treffen mit Uhde nur das Nötigste, das sich folgender­maßen zusammenfassen lässt: Andruchin kommt zu einem Fest auf seinen alten Stützpunkt etwa eine halbe Flugstunde von Berlin, von dem er als Geheimnisträger kurz vor dem 9. November 1989 abgezogen wurde. Dass nur wenige Monate später eine Rückkehr, wenn auch nur inoffiziell, möglich war, wurde in deutschen Geheimdienstkreisen als Indiz des fortschreitenden Verfalls der Autorität Moskaus gewertet, was in diesem Fall unerheblich ist oder auch nicht. Der Auf­trag für Sergej lautete, vollkommen unmissverständlich, An­druchin zu kontaktieren und ein Treffen mit Uhde zum ge­genseitigen Vorteil zu arrangieren. Genauso unmissverständlich musste Sergej sich jetzt eingestehen, dass er diesen Auf­trag nicht ausgeführt hatte, was zum einen daran lag, dass Andruchin offensichtlich ein ausgesprochen umgängli­cher Mensch war, der immer von vermutlich alten Unterge­benen umringt war, auch wenn die betörende Blondine, die die ganze Nacht nicht von sei­ner Seite wich, nicht ganz in dieses Bild passt. Wenigstens solange Sergej noch ansprech­bar war. Zum anderen gab es eine nicht unerhebliche Kom­plikation in der Kontaktaufnahme, denn Andruchin sprach offensichtlich nur russisch, eine Sprache, die Sergej trotz seines russischen Vornamens nie gelernt hatte. Hatte Uhde wegen dieses Vornamens eventuell falsche Schlüsse gezo­gen? Die­se Frage stellte sich Sergej in diesem Augen­blick nicht, denn das erneute, ununterbrochene Aufheulen des Stern­motors der Polikarpow I-16 konnte nur eines bedeuten: Die Maschine hatte die Startbahn 09 erreicht und war kurz davor, in den jetzt dunkelblauen März-Himmel zu ent­schwinden.

Jeder einigermaßen klar denkende Mensch hätte sofort er­kannt, dass ein Versuch, die Maschine jetzt noch zu stop­pen, zum Scheitern verurteilt wäre, doch wer würde Sergej vor­werfen, dass er in dieser Situation, wo der Abstand von der suchtmittelinduzierten Katatonie bis zur halbamtlichen Wach­heit eindeutig zu kurz war, um auch nur im entferntes­ten nachvollziehbare Entscheidungen zu tref­fen? Der Weg in die Vertikale brauchte deshalb auch mehrere Anläufe, in denen sich das vermeintliche Lasergitter vor Sergejs Augen immer wieder zu abenteuerlichen Formen ver­krümmte, bis er schließlich einigermaßen aufrecht stand und nach dem nächsten Ausgang suchte, der seiner Erinnerung nach am anderen Ende des Hangars war, auf den er augenblicklich in einer Art unsicheren Gangs zusteuerte, der jeden Beobachter entweder mit Sorge erfüllt oder zu lautem Lachen animiert hätte. Sehr zu seinem eigenen Erstaunen umkurvte er ohne einen größeren Unfall die Reste des nächtlichen Festes, das sich offensichtlich nach dem Eintritt seiner alkoholbeding­ten Abwesenheit noch zu einem richtig­en Gelage entwickelt hatte, wenn man die Anzahl der ver­streut herum­liegenden leeren Wodka- und Champagner­fla­schen ins Ver­hält­nis zu den heute Nacht Anwesenden setzte, was für Sergej aller­dings in seinem jetzigen Zustand eindeutig eine zu kompli­zierte Aufgabe war, weil er alle seine Energie darauf kon­zentrierte, seinen Blick auf das Tor zu fixieren und seine Nase zu ignorieren, die durch Schwaden abge­stan­denen Al­kohols und säuerlich Erbrochenem außeror­dent­lich gereizt, einfach nur nach frischer Luft gierte, die Sergej mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung einsog, als er schließlich im Freien stand und der Polikarpov hinterher sah, die viel­leicht in zwanzig Metern Höhe an ihm vorbeizog und lang­sam hinter den Weiden am Fluss in der eben aufgehenden Sonne ver­schwand.

Er war sich nicht ganz sicher, ob die Blondine ihm nicht kurz zu­genickt hatte, als der Blick des Piloten für einen Moment auf die Instru­mente seiner Ma­schine gerichtet war, aber er wollte es unbedingt glauben, weil es der Situation, in der er sich augenblicklich befand, einen geringfügig erfreulicheren Anstrich gab. Als das Häm­mern der Kolben des Flugzeugmotors langsam in ein leises Rattern, einer Nähmaschine nicht unähnlich, überging und schließlich von dem jetzt tatsächlich einsetzenden Wind übertönt wurde, riss Sergej sich aus einem Wachtraum, in dem die Blondine eine nicht näher definierte Rolle spielte und suchte nach Orien­tierung in dem Gelände, das er gestern Abend erst bei vollkommener Dunkelheit erreicht hatte, weshalb er seinen Wagen weit vom Hangar entfernt abgestellt hatte, ohne sofort zu wissen, wo genau. Am Hori­zont entdeckte sein herum­schweifender Blick schließlich die charakteristische Silhou­ette der Déesse mit ihrer auffällig türkisfarbenen Lackierung und dem weißen Dach, nicht weit entfernt vom anderen Ende der Bahn, auf der eben erst die Polikarpov mit Andruchin und seiner Begleiterin in den Osten gestartet war. Offensichtlich reflexartig hatte Sergej beim Aufstehen nach seiner Jacke gegriffen, sodass ihn jetzt nichts mehr am Aufbruch hindern konnte. Langsam ging er über die Startbahn des Flughafens, sich nicht im Klaren darüber, was ihn an dieser Militärbasis im Betrieb der russischen Luftwaffe irritierte, bis es ihm plötzlich ein­fiel, als er das charakteristische tek tek eines Zaunkönigs hörte, das von der anderen Seite der Startbahn aus einem Gebüsch zu kommen schien. Langsam drehte Sergej sich jetzt um und blickte zurück auf den großen Hangar, in dem er die Nacht verbracht hatte, auf die vielen kleinen mit Gras bewach­senen Nebengebäude, in denen vermutlich schweres Fluggerät untergebracht war und den Tower, vor dem jetzt ein Luftsack die Windrichtung anzeigte. 90 Grad, Ostwind, Vorbote jenes russischen Hochs, das Frühjahr und Sommer dieses Jahres prägen sollte mit viel Sonnenschein, wenig Regen und einer hervorragenden Fernsicht, sobald man einen etwas erhöhten Standpunkt einnahm. Aber es war nicht der Ostwind, der Sergej irritierte, es war diese fast un­natürliche Ruhe, die nur hin und wieder durch den Zaunkö­nig gestört wurde, dem es offensichtlich noch nicht gelun­gen war, mit seinen Gesangskünsten ein Weibchen zu über­zeugen, eine Liaison mit ihm einzugehen. Weit und breit kein Soldat, nicht ein einziges Flugzeug war zu sehen, das ganze Flugfeld schien verwaist, der Tower nicht besetzt. Um sich zu vergewissern, blickte er auf seine Armbanduhr. Kurz vor acht. Er hätte zumindest eine gewisse Geschäftig­keit er­wartet, auch an einem Sonntagmorgen um diese Zeit, um gar nicht erst den Gedanken aufkommen zu lassen, diese Basis wäre eventuell nur ein Potemkin’sches Dorf, eine In­szenierung, ein einmaliges Schauspiel, zu welchem Zweck auch immer. Oder, schlimmer, ein Produkt seiner Phantasie, ein Streich, den ihm sein Verstand spielte, um ihm was zu demonstrieren? Der Zaunkönig schien mittlerweile Gesell­schaft gefunden zu haben, denn sein hartes tek tek wurde mittlerweile von der helleren Stimme eines Weibchens un­terbrochen, worauf das Männchen erregt seine Replik in ein dzrr – dzrr verwandelte, um schließlich mit einem absch­ließenden gutturalen drrrr, das lange im runden Körper des Weibchens widerhallte, seine Paarungs­bereitschaft zu signa­lisieren. Wenn Sergej sich richtig erinnerte, lebten Zaunkö­nig-Männchen gewöhnlich mit mehreren Weibchen in einer durchweg einträchtigen Gemeinschaft. Dann war dieses er­ste Anbandeln im Zaun­könig-Reich vermutlich der Auftakt zu einem promiskuitiven Sommer. Welch schöne Aussich­ten! Zumindest für den Zaun­könig!

Mittlerweile hatte Sergej sich seinem Wagen soweit angenä­hert, dass ihm die auffällig tiefe Lage der Karosserie, die nicht allein durch die seinerzeit revolutionäre Hydropneu­matik verursacht sein konnte, auffiel. Nein, ganz offensicht­lich hatten ihm nicht unbedingt wohlgesonnene Kräfte aus allen vier Reifen die Luft abgelassen, was ein Fortkommen für den Augenblick ausschloss und zu einem Wutausbruch führte, dessen Sinnlosigkeit Sergej schnell bewusst wurde, weshalb er sich auch schnell wieder beruhigte, den Wagen aufschloss und sich auf der Rückbank hinlegte. Uhde wartete auf seinen Bericht, aber da er nichts zu berichten hatte, konnte er genauso gut warten, bis Sergej eingefallen war, wie er hier weg und zu einem Telefon kommen könnte.

Nachricht aus dem Deutschen Institut für Normung

Die lange erwartete DIN-Norm 58993 zur „Qualitätssiche­rung für Kondome für Männer aus Naturkautschuklatex – Anforderungen und Prüfverfahren“ ist heute vom Deutschen Institut für Normung veröffentlicht worden. Die nach dieser Norm produzierten Kondome werden umfänglich und weit über ein vorstellbares Maß an Belastung hinaus auf Elastizität, Druckwiderstand und Dichte geprüft. Die In­dustrienorm 58993 löst das Gütesiegel der Deutschen Latex­forschung ab und gibt Verbrauchern ab sofort die Sicherheit, die die Massenware aus Fernost, die seit einigen Jahren den deutschen Markt überschwemmt, nicht bieten kann. Bei der Vorstellung der neuen Industrienorm waren die Spitzen des Latexver­bands sowie Vertreter der MPA Darmstadt als auch des Deut­schen Instituts für Normung anwesend. Bei einem anschlie­ßenden Empfang zeigten sich alle Anwesenden erleichtert über die zügige Fertigstellung der neuen Norm. Der Latexverband arbeitet bereits an einem Logo und einem Slogan, an dem der Verbraucher ein der deutschen Norm entspre­chendes Produkt erkennen kann. Dr. Karl Schulze-Hellmann, Pressesprecher des Deutschen Instituts für Normung, verwies hinsichtlich der Dringlichkeit der Norm 58993 auf Spekulationen in der Presse, dass es aufgrund der politischen Entwicklungen in Mitteleuropa zu einem „summer of love“ kommen werde. Daher käme die Norm 58993 gerade rechtzeitig, um den Verbraucher vor den mögli­cherweise ungewollten Folgen dieses „summer of love“ zu schützen!

Seit vier Stunden lag der alte Mann schon wach in seinem Bett, ohne sich zu bewegen oder die Augen zu öffnen. Ganz entfernt hatte er die Kirchturmglocken des Dorfs wahrgenommen, als sie vier Uhr schlugen. Bei jeder vollen Stunde war der Klang der Glocken schwächer gewesen, was nur bedeuten konnte, dass Ostwind aufgekommen war, der den Schall vom Schloss wegwehte. Auch ohne Glockengeläut wusste Uhde, wie spät es war. Seit niemand mehr das Bett mit ihm teilte, hatte er ein feines Gefühl für das nächtliche Fortschreiten der Zeit entwickelt, das mit dem Alter ein immer weiter sich beschleunigendes Tempo angenommen hatte mit nur einem denkbaren Ziel und Ende.

Kurz nach acht erhob Uhde sich, streckte sich – noch im Bett sitzend – und stand schliesslich auf. Schon vor Stunden hatte er den Anruf erwartet, der ihn erlösen sollte. Er wußte aber auch, dass Telefonverbindungen in die DDR und aus der DDR Glückssache waren.

John

Seit Stunden saß John nun in seinem Büro, das nicht mehr war als eine ungelüftete Hutschachtel in der Nähe des Flughafens, und brütete über einem Text, den ihm sein Chef Jack C. Hillerman III am Nachmittag auf den Schreibtisch gelegt hatte mit dem ausdrücklichen Befehl, etwas Nützliches für seine Wahlkampagne für die anstehenden Kongresswahlen daraus zu destillieren. John stöhnte, der Hunger plagte seine Eingeweide, er hatte noch nie etwas Ähnliches gelesen. Was hatte John C. Hillerman III eigentlich falsch verstanden, als er ihn eingestellt hatte: Absolvent einer kleinen Universität im mittleren Westen. Altgriechisch und Früheschichte Europas! Also was sollte er mit diesem Text von einem gewissen John Williamson anfangen, von dem er noch nie gehört hatte und für dessen Gebiet, offensichtlich Ökonomie oder Ähnliches, er sich nicht im Geringsten interessierte? John blickte auf die Uhr. 22 Uhr! Er hätte längst zuhause sein sollen, ein Footballmatch gucken, einen Burger verspeisen. Fast automatisch griff er zu dem Telefonbuch im Regal zu seiner Linken, und da er sich dafür nicht einmal von seinem Stuhl erheben musste, ergibt sich daraus eine ungefähre Vorstellung von der Grösse der Abstellkammer, in die man ihn gezwängt hatte mit dem offensichtlich beruhigend gemeinten Hinweis, dass das ja nur vorübergehend wäre und nach den gewonnenen Wahlen im November dieses Jahres ein großzügiges, repräsentatives Büro im Capitol als Belohnung für die erlittenen Unannehmlichkeiten warte. Die Nummer des Lieferservices hatte er schon mindestens ein Dutzend Mal gewählt, aber sein Zahlengedächtnis war vielleicht nicht das Beste oder der Text von Williamson hatte etwas in ihm berührt, von dem er noch nicht wusste, was genau es war. Die Seite war jedenfalls schnell gefunden, da John, der nach wie vor fremd in dieser Stadt war, eigentlich nur zwischen seinem sogenannten Büro und seiner Wohnung, die nur unwesentlcih größer war als sein Arbeitsplatz, hin und her pendelte und Kochen nicht sein Ding war bzw. ihm die Zeit dafür fehlte, in jedem Telefonbuch, das er in Griffweite hatte, sei es in seinem Apartment oder dem Büro, die Seite mit der Telefonnummer des Lieferservices mit einem Eselsohr markiert hatte, so dass beim Blättern immer automatisch die gewünschte Seite sich öffnete. Die Bestellung jedenfalls lief gewohnt routinemäßig, Hamburger, French Fries, Diet Coke, No Ice. Die Nachfrage des Angestellten am anderen Ende der Telefonleitung ging im Flugzeuglärm einer startenden Maschine vom Washington National unter, so dass John warten musste, bis der Lärm der Maschine verebbte, was unter anderem den Vorteil hatte, dass kein peinliches Schweigen zu einer unnatürlichen Pause in einem ansonsten routinemässigem Gespräch bezüglich einer sehr alltäglichen Menübestellung führte. Als dann endlich wieder eine normale Kommunikation möglich war, hörte er die Stimme am anderen Ende fragen Sir, verstehen Sie mich, an die übliche Adresse? Das erste Mal fiel John jetzt ein gewisser Akzent auf, obwohl er sicher war, genau diese Stimme schon ein Dutzend Mal gehört zu haben. Er vermutete, dass diese Stimme einem Mann gehörte, der aus dem Ostblock stammte, wahrscheinlich aus Polen, denn genau dieser Akzent erinnerte ihn an seine Schwägerin Ruth, die aus Krakau stammte und auf abenteuerlichen Wegen lange vor den Ereignissen im vergangenen Herbst mit einem Fiat 500 aus dem Ostblock geflohen war, kurz vor einer Tankstelle in der Nähe von Nürnberg den Wagen in den Graben gelenkt hatte wegen offensichtlicher Übermüdung und dann, nach abenteuerlichen Jahren in Europa, vor ein paar Jahren seinen Bruder Herbert geheiratet hatte, der als GI in der alten SS-Kaserne im Süden Nürnbergs stationiert war, bevor er mit Frau und Kind auf die Farm in Minnesota zurückkehrte, gerade noch rechtzeitig, da kurz nach Ankunft von Sohn, polnischer Schwiegertochter und Enkelin sein Vater wegen eines Krebsleidens nicht mehr in der Lage war, die 500 Hektar zu bewirtschaften. John seufzte, einer heimlichen Neigung zu Selbstmitleid nach­gebend, so hatte er sich sein Leben nicht vorgestellt, Burger und scheußlicher, aber wenigstens heisser Kaffee am Morgen im Drive-In, Lunch Fehlanzeige, dann abends wieder Burger, Double Cheese, French Fries und als Highlight des Tages Mayo und Ketchup, ja John weiss, die Taille, und er ist sicher, dass die Sekretärin seines zukünftigen Abgeordneten, rothaarig, ausgesprochen süß, auf Waschbrettbauch steht. John seufzt schon wieder. Was sollte er nur mit diesem Text machen, der vor ihm lag. Er überflog ihn, dann noch mal und noch mal, dann begann er zu zählen und schliesslich noch einmal, dann war er sich sicher. Heureka. Er zückte seinen Füllfederhalter und schrieb mit seiner schönen Handschrift, Ausdruck eines offensichtlich gereiften Charakters, als neue Überschrift über den Text:

Der neue Dekalog

***

to be continued